Entropie
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Inertialsysteme


Das Geheimnis der geraden Linie

Wenn wir streng perspektivisch zeichnen, bilden wir eine gerade Linie durch eine gerade Linie ab, die in einen Fluchtpunkt mündet. Tatsächlich kann das jedoch nicht immer exakt das widergeben, was wir sehen. Stellen wir uns vor, wir stünden auf einer Eisenbahnbrücke und schauten auf die Geleise unter der Brücke.Vor und hinter der Brücke gibt es einen Fluchtpunkt. Nennen wir den Fluchtpunkt hinter der Brücke A und den Fluchtpunkt vor der Brücke B. Den Fluchtpunkt A erreichen die beiden Schienenstränge unter ganz wenig verschiedenen Winkeln und den Fluchtpunkt B erreichen sie ebenfalls unter ganz wenig verschiedenen Winkeln. Immerhin ist der geringe Unterschied der Winkel ausreichend dafür, dass die beiden Stränge unter der Brücke um die Geleisbreite voneinander entfernt sind. Würde man die Stränge jeweils durch Gerade ersetzen, die von den Fluchtpunkten mit ihren dortigen Winkeln bis zur Brücke verlängert sind, würde jeder so erzeugte Strang bei der Brücke einen Schnittpunkt mit seiner Geraden vom anderen Fluchtpunkt kommend haben, was gleichbedeutend mit einem Knick des Schienenstranges wäre. Diesen Knick müsste man bei einer Zeichnung durch einen geeigneten knickfreien und gekrümmten Kurvenverlauf ersetzen. Für den Beobachter auf der Brücke sind jedenfalls die Schienstränge gekrümmt. Sie bieten damit einen ziemlich seltenen Spezialfall der perspektivischen Darstellung, bei dem gerade Linien eigentlich in gekrümmter Form gezeichnet werden sollten.

Richtig interesant wird es bei folgendem Gedankenexperiment. Es müsste nämlich erlaubt sein, das Bild des einen der beiden Stränge langsam erblassen zu lassen bis es gänzlich gelöscht ist, ohne damit die Krümmung des anderen Stranges zu verändern. Das würde bedeuten, dass auch ein einzelner gerader Strang gekrümmt gezeichnet werden kann- oder sogar gekrümmt gezeichnet werden sollte. Offenbar reicht schon der bloße Gedanke an einen weiteren Strang, um die entsprechende Krümmung in der Darstellung eines Stranges zu veranlassen.

Tatsächlich ist es aber so: Wenn es für zwei Fluchtpunkte eine Schar von parallelen Geraden in natura gibt, die auf diese Fluchtpunkte zulaufen, müssten alle diese Geraden - bis auf vielleicht einen von ihnen - eigentlich gekrümmt gezeichnet werden. Will man nur eine Gerade zeichnen, kommt es auf die Wahl der beiden Fluchtpunkte an. Läuft die Gerade bereits in natura ungekrümmt auf beide Fluchtpunkte zu, kann man sie auch als Gerade darstellen, sonst sollte sie etwas gekrümmt widergegeben werden. Es kommt dann darauf an, ob sie "oberhalb" oder "unterhalb" oder" rechts" oder "links" der direkten Verbindung zwischen den beiden Fluchtpunkten verläuft. Ein Beispiel hierfür sind die waagerechten Kanten des Displays meines Laptops, auf dem ich diese Zeilen schreibe. Für seine obere und untere Kante liegen ganz rechts und ganz links im Zimmer ihre beiden Fluchtpunkte. Wollte ich das Display zeichnen, wäre es korrekt, mindestens eine der beiden Kanten etwas gekrümmt darzustellen.